Über Pokémonblitze und Epilepsie

Am Abend des 16. Dezember 1997 wurden ca. 700 Kinder und Jugendliche in Japan wegen anfallsartigen Ereignissen auf Notfallstationen im ganzen Land vorstellig. Die Patienten hatten zuvor alle die populäre Anime (Zeichentrick) Fernsehserie «Pocket Monster» (Pokémon) angeschaut, in der gegen Ende der Folge ein rot/blaues Flickerlicht ausgestrahlt wurde. Während bei einigen Kindern eine Epilepsie bekannt war, war es für viele junge Patienten das erste solche Ereignis. Wie ist dieses Phänomen zu erklären und warum kann eine Fernsehserie überhaupt einen epileptischen Anfall auslösen? Vieles ist mittlerweile bekannt über das Phänomen der ‹photosensitiven Epilepsie›, aber es gibt noch wichtige offene Fragen, denen wir in unserem Forschungszentrum nachgehen.
Epilepsie ist eine häufige Erkrankung, von der fast 1 % der Bevölkerung betroffen sind. In den meisten Fällen treten epileptische Anfälle ohne eindeutige Auslöser und ohne klar vorhersehbares Muster auf. Es gibt jedoch eine kleine Gruppe von Menschen, bei denen epileptische Anfälle überwiegend oder ausschliesslich durch äussere Reize ausgelöst werden. Man spricht in diesem Zusammenhang von so genannten Reflex-Epilepsien. Als anfallsauslösende Faktoren kommen hier verschiedenste äussere Reize in Betracht. Kognitive Prozesse wie räumliches Denken, Lesen oder andere Reize wie Berührungen oder Lärm kommen als Auslöser in Frage.
Die Ursache für diese Anfallsauslösung ist nicht vollständig geklärt, man geht aber davon aus, dass bei Menschen mit Reflex-Epilepsie aufgrund einer genetischen Veranlagung epileptische Netzwerke durch diese äusseren Reize aktiviert werden. Am häufigsten werden epileptische Anfälle durch Lichtreize ausgelöst. Bei diesen so genannten photosensitiven Epilepsien werden Anfälle vor allem durch hochfrequente Lichtblitze hervorgerufen.

Lili Timar (PhD Kandidatin) stellt ihre Forschungsresultate am Europäischen Epilepsiekongress in Rom 2024 vor.
Dies ist auch der Grund, warum bei EEG-Untersuchungen die Photostimulation zum Standard gehört. Das Erkennen dieser Empfindlichkeit gegenüber Lichtreizen ist einerseits für die Diagnose, andererseits aber auch für die Anfallsprophylaxe der betroffenen Patientinnen und Patienten wichtig. Das Phänomen der Photosensibilität liegt auch der eingangs beschriebenen «Pokémon-Epilepsie» zugrunde. Das zum Ende der Folge ausgestrahlte Flickerlicht hatte eine anfallsprovozierende Frequenz von 12 Blitzen in der Sekunde (12 Hz).
Ähnliche Ereignisse wurden später auch bei Videospielen berichtet, bei denen ebenfalls die Gefahr besteht, dass hochfrequente wechselnde Bildsequenzen epileptische Anfälle auslösen. Entsprechend sind viele Videospiele und Filme inzwischen mit entsprechenden Warnhinweisen versehen. Heute ist also klar, dass hochfrequente Lichtreize bei einem kleinen Teil der Epilepsie-Betroffenen epileptische Anfälle auslösen können.
Während die besonders risikoreichen Stimulationsfrequenzen (ca. 10-20 Hz Stimulation) gut beschrieben und verstanden sind, ist der Einfluss weiterer Faktoren wie Lichtintensität, Kontraststärke, Farbe oder Bildschirmgrösse noch unklar. Dies sind jedoch wichtige Fragen für betroffene Epilepsiepatientinnen und -patienten, da Filme und Videospiele heutzutage über eine Vielzahl unterschiedlicher Modalitäten und Endgeräte übermittelt werden. So können beispielsweise Filme auf dem Handy, zu Hause am Flatscreen, auf der Grossleinwand in 3D, oder in einer VR-Umgebung angeschaut werden. Welchen Einfluss diese Faktoren auf die Auslösung von epileptischen Anfällen haben, ist völlig unklar. Es gibt zudem keine verlässlichen Daten darüber, ob bestimmte Farbkontraste oder grosse Lichtintensitäten ebenfalls einen signifikanten Einfluss haben.
Um diese Lücke zu schliessen, haben wir ein Forschungsprojekt gestartet. Ziel dieses Projektes ist es, neben den bekannten Faktoren der photosensitiven Epilepsie (Einfluss der Frequenz) auch die Rolle der weiteren Einflussfaktoren zu untersuchen. Ein wichtiges Ziel dieser Forschung ist es, auf individueller Basis ein möglichst genaues Profil zu erstellen, um für die Betroffenen die persönlichen Risikofaktoren zu identifizieren. Da wir davon ausgehen, dass sich diese Risikofaktoren von Person zu Person unterscheiden, helfen diese Daten den Betroffenen direkt bei der Vermeidung von Anfällen. Dieses Forschungsprojekt verfolgen wir gemeinsam mit Kollegen der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (DRS Research Lab, Prof. Markus Gross). Die Doktorandin Lili Timar führt dieses Forschungsprojekt am Schweizerischen Epilepsie-Zentrum in der Forschungsgruppe der Klinischen Neurophysiologie durch. Ziel ist es, verlässliche personalisierte und prädiktive Daten zu erheben, um Patientinnen und Patienten auf individueller Ebene präventiv über das Risiko lichtempfindlicher Anfälle beraten und in Zukunft besser behandeln zu können.
Autor

Dr. Lukas Imbach
Medizinischer Direktor Epileptologie, Klinik Lengg
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