Prävention anfallsbedingter Verletzungen
Von Andrea Ratzinger
Epileptische Anfälle ereignen sich oft plötzlich und können verschiedene Erscheinungsformen haben. Die Betroffenen verlieren während des Anfalls kurzzeitig und je nach Anfallsverlauf in unterschiedlichem Ausmass die Kontrolle über ihren Körper. Dadurch kann es unter Umständen auch zu Unfällen und Verletzungen kommen.
Vergleichsweise häufige, anfallsbedingte Verletzungen sind Platzwunden am Kopf, Schürfungen, Hämatome, Prellungen und Zahnverletzungen, manchmal auch Frakturen, Verbrühungen und Verbrennungen, vereinzelt auch Stichverletzungen sowie Kopfverletzungen mit Gehirnerschütterung oder Hirnblutung. Hinzu kommen anfallsbedingte Gefahren im Strassenverkehr, beim Baden und Schwimmen oder das Einatmen von Fremdkörpern nach einem Anfall.
Die Gefahr von Anfällen und die Sorge vor möglichen körperlichen, aber auch psychischen, sozialen und ökonomischen Konsequenzen kann belasten und die Lebensqualität von Menschen mit Epilepsie und ihrem Umfeld beeinträchtigen. Ausserdem kann eine Anfallserkrankung Einschränkungen für die Berufsausübung und im Hinblick auf die Fahrtauglichkeit nach sich ziehen.
Vorsorgliche Massnahmen
- Die beste Prävention vor anfallsbedingten Unfällen und Verletzungen besteht darin, Anfälle zu vermeiden, wenn das möglich ist, z.B. durch eine erfolgreiche Behandlung und das Vermeiden anfallsprovozierender Faktoren.
Beispiel: Immer wenn Frau Meister erschrickt, hat sie einen epileptischen Anfall, bei dem sie mit dem Oberkörper blitzschnell nach vorne kippt. Sie ist dabei bereits mehrfach mit dem Kopf auf dem Tisch aufgeschlagen. Einmal landete sie mit dem Gesicht mitten in den noch heissen Teigwaren auf dem Teller. Ein anderes Mal stürzte sie vornüber aus dem Stuhl auf den Boden. Nachdem das Erschrecken als anfallsprovozierender Faktor bei Frau Meister erkannt war, klärte das Betreuungsteam mit ihr zusammen, in welchen Situationen und wodurch Frau Meister schnell erschrak. In einem zweiten Schritt überlegten sie Möglichkeiten, solche Schreckmomente zu vermeiden. So erhielt Frau Meister z.B. einen neuen Sitzplatz am Esstisch, von dem aus sie das Geschehen besser im Überblick hatte und nicht so schnell durch plötzliche Laute überrascht werden konnte. - Sofern sich Anfälle erst langsam «aufbauen», kann sich die betroffene Person beim Auftreten erster Anzeichen eventuell noch hinlegen, bevor sie allenfalls stürzt. Auch Begleitetes Gehen oder Rumpffixierungen im Rollstuhl können je nachdem hilfreich sein.
Beispiel: Herr Brunners Anfälle beginnen von aussen erkennbar jeweils damit, dass er die Augen weit aufreisst. Wenn dies sofort erkannt wird, bleibt einer Begleitperson oft noch genügend Zeit, ihn zu stützen und einen Sturz zu vermeiden.
Um anfallsbedingte Verletzungen zu vermeiden ist es also wichtig, im Einzelfall zu prüfen,
- wie die Anfälle der betroffenen Person verlaufen und wann und welche konkreten Verletzungsgefahren deshalb bestehen können.
- ob es konkrete Anfallsauslöser gibt und in welchen Situationen also eine besondere Anfalls- und Verletzungsgefahr besteht, um solche Situationen möglichst zu vermeiden oder wenigstens gut zu begleiten.
Bei der Auswahl von unterstützenden Massnahmen ist es wichtig, dass die betroffene Person sie auch tatsächlich als hilfreich und nicht allzu einschränkend erlebt.
Bei der Entstehung von anfallsbedingten Verletzungen sind diverse Faktoren beteiligt. Generell sind anfallsbedingte Verletzungen abhängig von der individuellen Anfallssituation (Anfallshäufigkeit, Anfallsform, Anfallshäufungen im Tagesverlauf, individuelle Anfallsprovokationsfaktoren; Cengiz et. al. 2019) und den Lebensumständen und Gewohnheiten der betroffenen Person. Hierbei spielen auch weitere Beeinträchtigungen wie eine geistige oder körperliche Behinderung und Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Aufmerksamkeitsdefizitstörungen eine Rolle.
Beispiel: Eine Person, die behinderungsbedingt im Rollstuhl sitzt, ist weniger sturzgefährdet als eine Person, die steht.
Hinweis: Manchmal führt auch die Einnahme von Medikamenten zu Gangunsicherheit und Schwindel, so dass sie einerseits zwar eine anfallsprophylaktische, andererseits aber auch eine unfallprovozierende Wirkung haben können.
Situationen mit besonderer Gefährdung und Beispiele präventiver Massnahmen
Je nach Anfall können die folgenden Vorsichtsmassnahmen nützlich sein. Ein Grossteil der anfallsbedingten Verletzungen ereignet sich im häuslichen Umfeld (Cengiz et. al. 2019). Daher können vor allem Schutzmassnahmen in der Wohnung zu einer Minimierung anfallsbedingter Verletzungen beitragen.
Wasser
Ein unbeaufsichtigter Aufenthalt im oder am Wasser kann für Menschen mit Epilepsie gefährlich sein. Epileptische Anfälle im Wasser enden, sofern sie unbemerkt bleiben und sich die betroffene Person nicht selbst über Wasser halten kann, unter Umständen tödlich. Anfallsbedingtes Ertrinken ereignet sich statistisch gesehen am häufigsten zuhause in der Badewanne (Cihan et. al. 2018). Zum Ertrinken reicht allerdings bereits eine geringe Wassertiefe aus, die auch in einer Dusche mit Rand gegeben ist. Das erhöhte Risiko bedeutet nicht, dass Menschen mit Epilepsie grundsätzlich nicht baden, schwimmen oder Boot fahren dürften. Es bedeutet vielmehr, dass man sich vorher in Ruhe überlegt, welche Hilfsmittel (z.B. Schwimmkragen, Fussstütze in der Badewanne, Bodenmatte) und sonstigen Vorsichtsmassnahmen (z.B. Baden in wenig Wasser, Entfernen des Ablaufdeckels vor dem Duschen, direkte oder indirekte Anwesenheit anderer Personen z.B. im Badezimmer hinter einem Paravent oder bei angelehnter Türe direkt vor dem Bad) so viel Badefreude und Schwimmspass wie möglich zulassen. Auch gilt es, allenfalls tageszeitliche Anfallshäufungen zu berücksichtigen und nicht gerade dann ins Wasser zu steigen, wenn vermehrt Anfälle zu erwarten sind. Beim Duschen besteht gegenüber dem Baden eventuell eine erhöhte Sturzgefahr, dafür ist die Gefahr, während eines Anfalls Wasser zu aspirieren, deutlich geringer.
Beispiele für weitere Vorsichtsmassnahmen in Zusammenhang mit Wasser:
- Schwimmen und Bootfahren nur in Begleitung
- Besondere Vorsicht bei überfüllten Schwimmbädern
- Anlegen eines Schwimmkragens in der Badewanne und einer Rettungsweste mit Kragen beim Schwimmen und Bootfahren
- Sich nicht unmittelbar an einer Schiffsreeling oder am Ufer aufhalten
Stürze
Anfallsbedingte Stürze entstehen aus verschiedenen Gründen:
- Bei tonischen Anfällen kann eine plötzliche Anspannung der Muskulatur einzelner Körperteile oder des gesamten Körpers verletzungsträchtige Stürze verursachen.
- Atonische Anfälle mit plötzlich verminderter Körperspannung können ebenfalls zu einem völligen Verlust der Haltungskontrolle führen und Stürze verursachen: Die betroffene Person knickt ein oder «sackt in sich zusammen».
- Myoklonische Anfälle sind durch kurze Muskelzuckungen gekennzeichnet. Je nach betroffener Körperregion kann es auch hierdurch zu einem Einknicken kommen.
- Bewusstseinseinschränkungen können zu unangemessenen Handlungen führen, die in ungünstigen Fällen ebenfalls mit Stürzen verbunden oder anderweitig gefährlich sein können.
Beispiele für Vorsichtsmassnahmen bei anfallsbedingter Sturzgefahr:
- Exponierte Stellen meiden (Bahngleise, Sessellift, Leitern)
- Treppen und Emporen in der Wohnung durch Geländer sicher
- Niedriges Bett oder Schlafen auf der Matratze am Boden (bei nächtlichen Anfällen)
- Boden vor dem Bett polstern
- Helm tragen
- Rückenprotektor tragen
- Sturzhose tragen
- Begleitetes Gehen
- Rumpffixierung im Rollstuhl und auf dem WC
Hinweis: Die längerfristige Einnahme von älteren Antiepileptika begünstigt eine Osteoporose, was wiederum das Risiko von Frakturen erhöht (Dabla, S. et. al. 2017).
Feuer und Hitze
Anfallsbedingte Verbrennungen und Verbrühungen entstehen am häufigsten beim Kochen und betreffen dann meist die oberen Extremitäten und das Gesicht. Sie entstehen vor allem durch den Kontakt mit heissen Getränken, Mahlzeiten oder Haushaltsgeräten z.B. durch das Verschütten von Tee, das Abstellen des Bügeleisens auf der Hand, beim Rauchen oder durch Stürze auf die heisse Herdplatte, in den Kamin oder in ein offenes Feuer.
Beispiele für Vorsichtsmassnahmen gegenüber Feuer und Hitze:
- Auf den hinteren Herdplatten kochen
- Pfannenstiele nach hinten drehen
- Kochen in Anwesenheit von anderen Personen
- Mikrowelle und geschlossene Fritteusen und Grillgeräte sowie Kochtöpfe mit isoliertem Deckel benutzen
- Gefässe mit heissem Inhalt (Pfannen, Krüge) nicht über längere Strecken umhertragen, sondern einen Servierwagen benutzen
- Getränkekannen mit Sicherung (Knopfsperre) benutzen
- Sich nicht unmittelbar am offenen Feuer aufhalten
- Essen heisser Speisen in Anwesenheit von anderen Personen
- Heizkörperverkleidung anbringen
- Auf elektrische Bügeleisen und Heizstrahler verzichten
- Nicht alleine bügeln
- Zur Vermeidung von Verbrennungen und Stromunfällen einen festinstallierten Föhn benutzen
- Temperaturregulierung am Wasserhahn, vor allem am Duschkopf anbringen
- Nicht im Bett, im Sessel oder auf Teppichböden rauchen
Zungen-, Wangenbiss
Anfallsbedingte Bissverletzungen sind sehr unangenehm, aber nicht lebensbedrohlich. Sie entstehen häufig in einer frühen Phase des Anfalls infolge von erhöhter Körperspannung (tonisch) oder während rhythmischer Zuckungen (klonisch), insbesondere bei generalisierten Anfällen. Sie können aber auch bei anderen Anfallsformen auftreten (Dufresne, D. et. al. 2019).
Anfallsbedingte Bissverletzungen lassen sich kaum vermeiden. Entgegen früherer Handhabung wird generell empfohlen, während eines Anfalls keine Gegenstände, also auch keinen (Gummi-) Keil in den Mund zu schieben, weil dies ebenfalls zu Verletzungen führen kann: sowohl bei der vom Anfall betroffenen als auch der Hilfe leistenden Person.
Schlaf
Normalerweise ist eine nächtliche Überwachung der Anfallssituation nicht angezeigt. Gute Gründe für eine nächtliche Anfallsüberwachung sind jedoch:
- medizinisch-diagnostische Gründe:
- um die Häufigkeit und Art nächtlicher Anfälle zu erfassen
- um die Wirksamkeit der medikamentösen Therapie zu kontrollieren
- das Sicherheitsbedürfnis der betroffenen Person
- Gefahren in Zusammenhang mit einem andauernden, nicht endenden epileptischen Anfallsgeschehen (Status epilepticus) oder infolge anfallsbedingten Umherirrens
Darüber hinaus können heftige Bewegungen während eines Anfalls Grund für besondere Schutzmassnahmen sein, z.B. das Anbringen einer Polsterung an der Wand oder ein niedriges Bett, um tiefe Stürze zu verhindern, oder zumindest eine vorgelagerte Matratze.
Manche Betroffene haben vor allem «Aufwachanfälle», also Anfälle kurz nach dem Aufwachen. Um Stürze und damit zusammenhängende Verletzungen beim Aufstehen zu vermeiden, kann es hilfreich sein, wenn sie nach dem Aufwachen noch eine Weile im Bett bleiben und also den Wecker stellen. Bei einer morgendlichen Anfallshäufung empfiehlt es sich ausserdem, das Duschen oder Baden auf eine andere Tageszeit zu verschieben oder auch das Stehen/Sitzen direkt an der Lavabokante zu vermeiden.
Im institutionellen Kontext empfiehlt es sich, mit den betroffenen Personen und ihren Angehörigen sowie gesetzlichen Vertretern klare Vereinbarungen zu treffen, diese zu dokumentieren und gemeinsam zu unterzeichnen. Dabei ist darauf zu achten, dass diese in nützlichen Abständen überprüft und gegebenenfalls angepasst werden.
Informationsmaterialien Epilepsie wie Checklisten und Checkkarten
Lehrbuch «Basiswissen Epilepsie» für Fachpersonen, die Menschen mit geistiger Behinderung und Epilepsie begleiten
Kontakt
Pascale Hofmann
Sekretariat EPI WohnWerk
Literatur
- Cengiz, O., Atalar, AC, Tekin, B., Bebek, N., Baykan, B., Gürses, C. (2019): Impact of seizure-related injuries on quality of life. In: Neurol. Sci 2019 Mar; 40 83: 577-583
- Cihan, E., Hesdorffer, DC., Brandsoy, M., Li, L., Fowler, DR., Graham, JK., Donner, EJ., Devinsky, O., Friedman, D.: Dead in water: Epilepsy-related drowing or sudden unexpected death in epilepsy?. In: Epilepsia 2018 Oct; 59 (10):1911-1972
- Dabla, S., Inder, P., Deepa, D., Padma, M. V., Manjari, T. (2017): Predictors of Seizure-Related Injuries in an Epilepsy Cohort from North India. In: Journal of Epilepsy Research 2018 1; 8:27-32
- Dufresne, D., Dubovec, K., So, NK, Kotagal, P. (2019): Ictal biting injuries in the epilepsy monitoring unit, a cohort study of incidence and semiological significance. In: Seizure 2019 Mar; 66:39-41