Epileptische Anfälle (mit)erleben – eine komplexe Herausforderung ...
... für Angehörige und professionelle Helferinnen und Helfer.
Von Andrea Ratzinger und Jörg Wehr
Einmal verliess eine Mitarbeiterin nach Jahren engagierter Mitarbeit unser Haus mit dem Hinweis, sie halte es einfach nicht länger aus: immer wieder mitansehen zu müssen, wie Menschen mit einer therapieresistenten Epilepsie von Anfällen betroffen sind. Wie sie Missempfindungen haben, das Bewusstsein verlieren, zucken oder wie auch immer ihre Anfälle aussehen. Besonders schlimm erlebte sie plötzliche Stürze, bei denen es zu Verletzungen kam, oder mehrere Minuten lang andauernde, kraftraubende Krämpfe.
In vielen Anfallsbeschreibungen von Angehörigen dominiert in Zusammenhang mit Stürzen die Angst vor (weiteren) Verletzungen und Unfällen. Angesichts wiederkehrender Verletzungen beschreiben manche auch Gefühle der Resignation.
«Einen Sinn kann ich hinter all dem sowieso nicht mehr sehen. Für welche Art von Leben versuchen wir Dich hier zurechtzuflicken? Wenn Du jemals wieder dieses Bett verlässt, mit verheilten Wunden, so Gott will, so wirst Du nach spätestens drei Tagen wieder der Länge nach hinfallen, und alles wird von vorne anfangen. Wozu also?» (Doermer 1990:199)
Auch wenn die allermeisten Anfälle nur von kurzer Dauer sind (Sekunden bis wenige Minuten), und keine Lebensgefahr besteht, wecken sie je nach Heftigkeit und Verlauf doch bedrohliche Fantasien.
«Und diesmal sah Ida mit eignen Augen den ganzen Anfall, vom ersten Augenblick an, da der Schrei ausgestossen wurde und Useppe, wie von einem mörderischen Raubtier angefallen, zu Boden stürzte», beschreibt Elsa Morante in ihrem Roman La Storia ein solches Ereignis. «Und genau in diesem Augenblick erreichte sie aus ihrem tiefsten Innern die unumstössliche Gewissheit, dass ihr Kind vom Tode gezeichnet war».
Und natürlich sind Menschen, die epileptische Anfälle haben, mehr gefährdet als Menschen, die keine Anfälle haben. Hinzu kommt ein oft unheimliches Erscheinungsbild. Die Mutter eines Kindes mit epileptischen Anfällen beschrieb dies einmal so:
«Der Anfall hatte unser hübsches Kind entstellt, sein ebenmässiges Gesicht wurde völlig verzerrt und glich einer Fratze. Mein eigenes Kind hatte sich so verändert, dass ich Angst vor ihm bekam» (Schuster2002:28).
In Situationen, in denen die Anfälle nicht aufhörten, berichtet dieselbe Mutter von einem Gefühl tiefster Einsamkeit und im Kontext eines durch das Telefon miterlebten Anfalls des Sohnes von grenzenloser Hilflosigkeit und Verzweiflung angesichts der Tatsache, nicht helfen zu können. In Situationen in denen sie dabei sein, helfen und beobachten könne, genüge ihr hingegen die Gewissheit, für das kranke Kind da zu sein (vgl. Schuster 1990:37). Im Gegensatz dazu erlebt eine andere Mutter die Trennung von ihrem Sohn im Zuge des Heimeintritts im Hinblick auf das (Mit-)Erleben von Anfällen als Entlastung.
«Als er wieder zurück nach Höhenberg fuhr, war ich glücklich, solche Situationen nur noch selten erleben zu müssen. Nicht mehr ansehen und aushalten müssen, wie Sebastian Bewusstsein und Tonus verliert!» (Meyer-Brauns 2007a:4)
Ausserdem nehmen Angehörige häufig Unterschiede in der Qualität und Intensität des Erlebens epileptischer Anfälle gegenüber Fachleuten und anderen Personen wahr.
«Das Ausmass dieser Entlastung (Anfälle nicht mehr ansehen und aushalten zu müssen – A.d.R.) können nur Angehörige epilepsiekranker Menschen nachvollziehen.» (Meyer-Brauns 2007a:4)
Dass ein epileptischer Anfall nicht nur den Betroffenen den Atem rauben kann, sondern auch denen, die einen Anfall miterleben, liegt auf der Hand. Thomas Mann beschreibt dies im Zauberberg eindrücklich anhand eines grossen epileptischen Anfalls im Davoser Lungensanatorium; er versetzt die Mitpatienten in grosse Aufruhr. Das Miterleben eines Anfalls kann sehr erschrecken, und immer wiederkehrende Anfälle können den betroffenen Menschen und sein soziales Umfeld sehr belasten, so dass beispielsweise die Eltern eines betroffenen Kindes manchmal selber psychisch krank werden und der familiäre Zusammenhalt gefährdet ist (vgl. Sälke-Kellermann:43). So schildern manche Eltern mit Blick auf verschiedene Lebenssituationen das Gefühl, dass es sich bei ihrem von Epilepsie betroffenen Kind um einen Teil ihrer Selbst handle und sie im Rahmen dieser Beziehung zum Teil auch die Schwankungen von Befindlichkeiten, einschliesslich der Erschöpfung nach den Anfällen, teilen (vgl. Doermer 1990:18, 146, 148).
Das (Mit-)Erleben eines Anfalls muss aber nicht in jedem Fall Erschrecken auslösen:
«Wenn ich so zurückdenke, wie es mir jeweils ergangen ist, stelle ich fest, dass ich in den Situationen, in denen ich Anfälle erlebte, nie Angst oder Unsicherheit hatte (ausser in Bezug auf genaue Informationen bezüglich der Abgabe von Reservemedikation)», so eine Teilnehmerin am Grundkurs Epilepsie 2018.
Professionelle Helferinnen und Helfer wie auch Angehörige beschreiben, dass sie im Verlauf der Zeit lernen konnten, mit den Anfällen umzugehen und sich das (Mit-)Erleben der Anfälle dadurch auch verändern könne. So fährt dieselbe Grundkursteilnehmerin fort:
«Beim ersten miterlebten Anfall hatte ich die Information, dass der Klient beim Anfall umhergehe. Das tat er auch. (…) Er stand (…) auf und lief umher und war nicht ansprechbar. Ich begleitete ihn, bis er wieder mit mir redete und ins Bett wollte. Mit dem Wissen, wie sein Anfall abläuft, blieb ich sehr ruhig.» Und: «Je mehr ich wusste, desto ruhiger blieb ich.»
Bei manchen Anfallsformen sind Menschen mit Epilepsie während dem Anfallsgeschehen in ihrem Bewusstsein eingeschränkt. Sie erleben ihre Anfälle dann nicht bewusst mit und werden erst, wenn sie wieder zu sich kommen, mit den Reaktionen ihrer Mitmenschen konfrontiert. Andere hingegen bleiben bei Bewusstsein und können die Reaktionen ihres Umfelds während des Anfalls mitverfolgen. In beiden Fällen erleben die Betroffenen ihre Anfälle im Spiegel ihres sozialen Umfelds, in den Gesichtern und dem Verhalten der Umstehenden mit, wie die Auszüge aus dem Gedicht «Ich liege da» (Dani:85) verdeutlichen.
«Ich liege da
Leute gucken
Ich liege da
Leute schauen …
Ich lieg‘ am Boden
Leute bekommen Panik
Ich bin am Boden zerstört
Leute bekommen Angst
Leute rennen vor Angst weg
Ich bin am Ende
Leute denken ich nehme sie nicht wahr …»
• Für die Begleitung eines Menschen, der gerade einen epileptischen Anfall hat, ist es hilfreich, wenn die Anwesenden versuchen, in Ruhe durchzuatmen, Ruhe auszustrahlen und sich im Bewusstsein der Bedeutung des eigenen (Gesichts-) Ausdrucks und des eigenen Verhaltens dem betroffenen Menschen zuwenden.
• Hierfür ist es von grosser Bedeutung, genau zu wissen, wie die Anfälle bei dem betroffenen Menschen üblicherweise ablaufen. Zur eigenen Vorbereitung kann es sinnvoll sein, sich die Situation, mit der man konfrontiert sein könnte, und einen möglichst unterstützenden Umgang damit zu durchdenken.
Auch im Hinblick auf die Dauerbelastungen einer chronischen Epilepsieerkrankung ist es für die Betroffenen und ihr soziales Umfeld wichtig, zur Ruhe zu finden und gegebenenfalls Hilfe zu holen: nicht nur zur Bewältigung akuter Notlagen, sondern auch, um die psychischen und sozialen Langzeitbelastungen zu bearbeiten. Angehörige, insbesondere Mütter, beschreiben angesichts des Miterlebens epileptischer Anfälle ihres Kindes oft intensive Gefühle der Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Einsamkeit, Resignation und Involviertheit (Ratzinger 2009:73).
• Es ist wichtig, dass sich die professionellen Helferinnen und Helfer bewusst sind, wie umfangreich die Herausforderungen im Umgang mit einer schwer behandelbaren Epilepsie sowohl für die Menschen mit Epilepsie als auch für ihr gesamtes Umfeld sind. Professionelle Helferinnen und Helfer sollten ihr eigenes Erleben der Anfälle der Betreuten reflektieren und mit anderen besprechen können.
• Ausserdem sind professionelle Helferinnen und Helfer gefordert, Verständnis für das individuelle Anfallserleben aller Beteiligten aufzubringen, das sich eventuell deutlich von ihrem eigenen Erleben unterscheidet; dies als Voraussetzung für eine angemessene Begleitung der Betroffenen und ihres sozialen Umfeldes.
Dieser Artikel fokussiert auf das (Mit-)Erleben von epileptischen Anfällen durch Angehörige und professionelle Helferinnen und Helfer. Darüber hinaus gebührt der Thematik, wie Menschen mit geistiger Behinderung und Menschen mit Epilepsie epileptische Anfälle bei anderen Menschen (mit)erleben, besondere Bedeutung. Für eine angemessene Begleitung der Betroffenen ist es wichtig, ausgehend von einem guten Verständnis für ihre Bedürfnisse, Erfahrungen und Wünsche, das professionelle Angebot zu reflektieren und anzupassen.
Informationsmaterialien Epilepsie wie Checklisten und Checkkarten
Lehrbuch «Basiswissen Epilepsie» für Fachpersonen, die Menschen mit geistiger Behinderung und Epilepsie begleiten
Kontakt
Pascale Hofmann
Sekretariat EPI WohnWerk
Literatur
- Dani: «Ich liege da» in Rudolph, Susanne (Hrsg.): Ein beinahe fast normales Leben. Junge Menschen erzählen aus ihrem Alltag mit Epilepsie. 3. erw. Aufl. 2009; Ulm: Datadruck.8
- Doermer, L. (1990): Moritz mein Sohn. München: Bertelsmann
- Mann, Thomas (1924): Der Zauberberg.
- Morante, Elsa (1974): La Storia.
- Ratzinger, A. (2009): Eltern geistig- und mehrfachbehinderter Erwachsener mit Epilepsie vor und nach der Entscheidung ihr Kind einem Heim anzuvertrauen. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Medizinische Fakultät. Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft.
- Sälke, Ritva A. Kellermann (2010): «Ganzheitliche Diagnostik- und Therapiekonzepte der Epilepsien im Kindesalter» in Sälke, Ritva A. Kellermann, Jörg Wehr (Hrsg.): Kind und Epilepsie. Ganzheitliche Behandlungs- und Betreuungskonzepte für Kinder mit Epilepsie; Bad Honnef:Hippocampus.3-71.
- Schuster, Ursula (2002): Lauter Stolpersteine; Attempto, Tübingen
- Teilnehmerin am Grundkurs Epilepsie 2018: «Wie ist es mir ergangen bei einem epileptischen Anfall?» Handschriftlicher Erfahrungsbericht.
- Für weitere literarische Hinweise vgl. «Epilepsiemotive in der erzählenden Literatur» nach Zusammenstellungen und Erläuterungen von P. Wolf, Bielefeld-Bethel in Epilepsieblätter 7 (1994) und 9 (1996) unter http://www.epilepsiemuseum.de/alt/literaturlisted.html