Ein Anfall, was tun?
Von Andrea Ratzinger und Jörg Wehr
Epileptische Anfälle können erschrecken. Sie erschrecken den Betroffenen und auch die anderen Anwesenden. Sie treten meist plötzlich und unerwartet auf. Nicht zu wissen, wann der nächste Anfall kommt, wird als grosse Belastung erlebt. Ein Anfall bedeutet einen Moment lang und manchmal darüber hinaus Kontrollverlust für den von Epilepsie betroffenen Menschen und kann auch für diejenigen, die gerade bei ihm sind, eine schwierige Herausforderung darstellen. Denn da geschieht etwas Befremdendes, etwas, das Angst machen, peinlich und unter Umständen auch gefährlich sein kann. Deshalb wird, wenn wir von Epilepsie und epileptischen Anfällen sprechen, meistens zuerst danach gefragt, was man im Moment eines Anfalls tun kann. Man möchte ja etwas tun können, denn man möchte die Kontrolle zurückgewinnen, möchte das Unheimliche abwehren und Schaden vermeiden.
Vor einem Anfall
Für epilepsiekranke Menschen und beim Umgang mit epilepsiekranken Menschen ist es hilfreich, sich mit der individuellen Anfallssituation auseinanderzusetzen: Welche Anfallsformen treten überhaupt auf? Wie häufig sind sie? Wie sehen sie aus? Lassen sich Anfallshäufungen zu bestimmten Zeiten oder unter bestimmten Umständen beobachten? Sind möglicherweise sogar individuelle Anfallsprovokationsfaktoren bekannt? Und: Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Arbeits(platz)-, Wohn(raum)- und Freizeitgestaltung?
Individuell bekannte Anfallsprovokationsfaktoren sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Ausserdem ist es wichtig, Situationen mit erhöhten Gefahrenmomenten vorauszudenken, gezielt zu begleiten und bereits im Voraus allfällige Sicherheits- und Unterstützungsmassnahmen zu treffen. Oft ergibt sich hierbei eine Gratwanderung zwischen Sicherheitsbedürfnis und Lebensqualität. Grundsätzlich sollten Menschen mit Epilepsie keine unnötigen Einschränkungen erfahren, da diese ein Leben mit Epilepsie zusätzlich erschweren. Darüber hinaus müssen wir uns informieren, unter welchen Umständen besondere Massnahmen erforderlich sind: ob und wann ärztlich verordnete Reservemedikamente verabreicht oder ein Arzt hinzugerufen werden sollen.
Zusammenfassung Was tun vor einem Anfall:
- Informationen über bereits vorliegende Beobachtungen zur individuellen Anfallssituation einholen: Anfallsformen, -häufigkeit, -häufungen und allfällige Provokationsfaktoren.
- Arbeits(platz)-, Wohn(raum)- und Freizeitgestaltung entsprechend anpassen und allfällige Sicherheitsmassnahmen ergreifen (nicht alleine baden, Reservemedikamente mitnehmen etc.).
- Anfallsprovokationen möglichst vermeiden.
- Sich über individuell erforderliche Massnahmen beim Auftreten eines Anfalls informieren: Ab wann muss welches Reservemedikament verabreicht werden, ab welcher Anfallsdauer soll ein Arzt informiert resp. hinzugerufen werden, welche Wünsche hat die betroffene Person an ihre Begleitung und Unterstützung während eines Anfalls?
Während eines Anfalls
Während eines Anfalls kann und muss man erst einmal nicht sehr viel tun (Wehr, J. 2010). Bei manchen Anfallsformen sind keine speziellen Massnahmen erforderlich. Das Wichtigste ist: Ruhe bewahren, bei der betroffenen Person bleiben und ihr bei Bedarf unterstützend zur Verfügung stehen.
Schutz vor Verletzungen
Epileptische Anfälle bestehen nicht in gezielten oder geplanten Handlungen. Wichtig ist es daher, die Betroffenen in der Anfallssituation vor Gefahren und Verletzungen zu schützen.
Um Verletzungen zu vermeiden, sollte nicht in das Anfallsgeschehen eingegriffen werden. Manchmal ist es jedoch möglich, noch gewisse Schutzmassnahmen zu ergreifen und z.B. jemandem während eines Anfalls ein Kissen oder einen weichen Gegenstand unter den Kopf zu legen und gefährliche Gegenstände aus dem Weg zu räumen, beispielsweise spitze Gegenstände, einen Teller mit heisser Suppe und so weiter.
Wenn sich die betroffene Person während des Anfalles bereits in einer Gefahrenzone befindet, z.B. in der Badewanne sitzt oder auf die Strasse fällt, sollte sie – möglichst am Rumpf – aus der Gefahrenzone gezogen werden. Dabei sollte nichts zwischen die Zähne oder in den Mund gepresst werden. Der früher empfohlene Gummikeil zwischen den Zähnen wird nicht mehr verwendet, da die Verletzungsgefahr grösser ist als ein möglicher Nutzen.
Weitere Informationen: Fachartikel zur Prävention von anfallsbedingten Verletzungen
Anfallsbeobachtung
Eine genaue Beobachtung und anschliessende Beschreibung von Anfällen sind zentrale Elemente für die Epilepsiediagnose, -behandlung und Verlaufskontrolle.
Nähere Informationen:
Fachartikel zur Anfallsbeobachtung und -beschreibung
Checkliste zur Anfallsbeobachtung und -beschreibung
Verabreichung von Reservemedikation gemäss Verordnung
In der Regel dauert ein Anfall bei erwachsenen Menschen nur Sekunden bis wenige Minuten und hört von selber wieder auf. Vor allem bei einem generalisierten tonisch-klonischen Anfall ist jedoch die Benachrichtigung eines Notarztes oder der Ambulanz erforderlich, sollte dieser nach fünf Minuten noch nicht beendet sein oder wenn in kurzen Zeitabständen weitere Anfälle auftreten (vgl. Kurthen, 2019). Es ist also nützlich, auf die Uhr zu schauen um zu wissen, wie lange der Anfall dauert, und entscheiden zu können, ob die Ambulanz zu rufen, ein Arzt zu informieren oder allenfalls ein sogenanntes Bedarfs-, Notfall- oder Reservemedikament zu verabreichen ist.
Ob ein Reservemedikament zur Anwendung kommen darf, hängt von der ärztlichen Verordnung und der entsprechenden Ausrüstung und Befähigung der Begleitperson ab. Falls eine solche Verordnung vorliegt, ist es wichtig, diese zu kennen, zu verstehen und entsprechend zu handeln. Dann ist es wichtig, das betreffende Medikament vorschriftsmässig zu verabreichen und seine Wirkung zu beobachten. Die erwünschte Wirkung besteht darin, dass das Medikament das Gehirn darin unterstützt, das aktuelle Anfallsgeschehen zu überwinden und weiteren Anfällen vorzubeugen. Dies dauert je nach Medikament, Verabreichungsform und Konstitution der betroffenen Person ca. 5 bis 15 Minuten. Sollte die erwartete Wirkung danach noch nicht eingetreten sein, ist ein Arzt hinzuzuziehen oder die Ambulanz zu rufen.
Nähere Informationen: Fachartikel zur medikamentösen Notfallbehandlung bei epileptischen Anfällen
Gründe zur Benachrichtigung eines Arztes
Ärztliche Hilfe ist also erforderlich, wenn Anfälle nicht von selber aufhören resp. verordnete Reservemedikamente nicht die erwartete Wirkung zeigen. Sie ist auch notwendig, wenn sich die betroffene Person nach dem Anfall nicht mehr vollständig erholt oder Verletzungen zugezogen hat, die einer medizinischen Behandlung bedürfen.
Wenn ein Anfall erstmalig auftritt oder ein im Vergleich zu bisher vorliegenden Anfallsbeschreibungen ungewöhnlich anders erscheinender Anfall beobachtet wird, sollte ebenfalls der Arzt informiert werden. Dasselbe gilt bei Unklarheiten oder Problemen mit der Verabreichung der Reservemedikation, damit diese besprochen werden.
Zusammenfassung Was tun während eines Anfalls:
- Ruhe bewahren.
- Die betroffene Person vor Gefahren schützen und darauf achten, dass sie sich nicht verletzt.
- Den Anfall beobachten und auf die Uhr schauen.
- Bei der Person bleiben, Orientierung geben, Hilfe anbieten.
- Falls vorhanden, Reservemedikation nach Verordnung verabreichen.
- Gründe zur Benachrichtigung eines Arztes berücksichtigen.
Nach einem Anfall
Wie es Menschen nach einem Anfall geht, ist je nach Anfallsform, Person und Situation unterschiedlich. Manche Betroffenen berichten von länger andauernden Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Verwirrtheit oder depressiven Verstimmungen; dann brauchen sie Ruhe und Erholung. Andere können resp. wollen nach dem Anfall sofort wieder an ihre vorherige Tätigkeit anknüpfen. Grundsätzlich ist es wichtig, nach einem Anfall das Bewusstsein und den Allgemeinzustand der betroffenen Person zu überprüfen und bei ihr zu bleiben, bis sie wieder voll orientiert ist, sich wieder normal bewegt und sicher handeln kann. Um das Bewusstsein zu überprüfen, kann man sie ansprechen und beobachten, ob sie auf Fragen, Geräusche oder Berührungen in gewohnter Weise reagiert.
Bis betroffene Personen nach einem Anfall wieder voll orientiert sind, kann es eine Zeitlang dauern. Es ist also wichtig, den betroffenen Menschen Zeit zu geben, sich wieder zu orientieren, und sie (und allenfalls weitere Beteiligte) über den Anfall zu informieren und dabei zu unterstützen, Erinnerungslücken zu schliessen. Vorschnelle Versuche, betroffene Menschen nach einem Anfall zum Aufstehen, Hinsetzen, Hinlegen und so weiter zu bewegen, können von ihnen als bedrohlich empfunden werden, sodass sie sich dagegen wehren (Schweizerische Epilepsiestiftung, 2017, S. 20).
Bei Bewusstlosigkeit ist es wichtig, die betroffene Person sofort in die stabile Seitenlage zu bringen, um eine Aspiration von Zunge oder Erbrochenem zu vermeiden.
Nach einem Anfall ist es hilfreich, die betroffene Person zu fragen, wie sie sich die weitere Unterstützung und das weitere Vorgehen wünscht. Die mitmenschliche Präsenz, das „da sein“ während eines Anfalls und danach, wird von vielen Betroffenen hilfreich erlebt. Es gibt aber auch Menschen, die sich nach einem Anfall rasch zurückziehen und allein sein möchten, die dann nicht berührt und angesprochen werden möchten. Das Erfragen und Beobachten der individuell unterschiedlichen Wünsche und Bedürfnisse ist also wichtig. Darüber hinaus ist es wichtig, diese Informationen auch für andere Bezugspersonen zu dokumentieren und in geeigneten Abständen zu überprüfen und ggf. neu anzupassen.
Zusammenfassung Was tun nach einem Anfall:
- Bewusstsein und Allgemeinzustand überprüfen
- Über das Vorgefallene informieren und Zeit zur Orientierung geben.
- Bei Bewusstlosigkeit: stabile Seitenlage.
- Dableiben, bis Person wieder voll orientiert ist und sich normal bewegt.
- Unterstützung anbieten.
- Anfall und Erkenntnisse für die künftige Anfallsbegleitung dokumentieren.
Die Checkliste Ein Anfall – Was tun? fasst die wichtigsten Punkte dieses Artikels zusammen.
Das Literaturverzeichnis finden Sie weiter unten.
Informationsmaterialien Epilepsie wie Checklisten und Checkkarten
Lehrbuch «Basiswissen Epilepsie» für Fachpersonen, die Menschen mit geistiger Behinderung und Epilepsie begleiten
Kontakt
Pascale Hofmann
Sekretariat EPI WohnWerk
Literatur
- Schweizerische Epilepsiestiftung (2017): Basiswissen Epilepsie
- Wehr, J. (2010): Epilepsie im Alltag. In: Sälke-Kellermann, R. A. / Wehr, J. (Hrsg.): Kind und Epilepsie. Bad Honnef: Hippocampus Verlag (S. 107-110)
- Kurthen, M. (2019): Medikamentöse Notfallbehandlung